Selbstliebe,  Spiritualität im Alltag

Erwachen und Selbstliebe

Ein Interview mit Anna Kirsten Helmke. Die Erwachte berichtet über das »Ereignis«. Sie erzählt unter anderem auch, wie die Erfahrung des Erwachens ihre Selbstliebe verändert hat.

Porträtfoto der Coachin Anna Kirsten Helmke ©A. Helmke
© Anna Kirsten Helmke

Barbara Nobis: Liebe Anna Kirsten, stelle Dich doch mal bitte vor. 

Anna Kirsten Helmke: Ich lebe im Moment in meiner winterfesten Jurte mit meiner Katze Nuri in der Nähe von Lüneburg. Ich arbeite im Bereich des ganzheitlichen Coachings und der Selbsterforschung. Dazu gehören unter anderem THE WORK, ein selbst entwickeltes Konzept DEEP FIELD COACHING und Voice Soundhealing. Außerdem bin ich Künstlerin und male Seelenbilder.

Herrscht nach dem Erwachen tatsächlich die Glückseligkeit vor?

Barbara Nobis: Wir sprechen heute über das Thema Selbstliebe und Erwachen. Der Artikel »Der Erleuchtung ist es egal, wie man sie erlangt« von Fabrice Müller beschreibt meines Erachtens sehr gut die Grundmerkmale des Erwachens. Der Zen-Lehrer Hans-Walter Hoppensack bezeichnet das Erwachen als die bewusste Erfahrung, dass alles zusammengehört, dass alles eins ist und aus der gleichen Quelle stammt. Das Eine begegne sich selbst im Andern. Ein Mönch namens Kelsang Chogdrub wird im eben genannten Artikel ebenfalls zitiert. Für ihn ist »der Weg der Erleuchtung« ein Prozess, der den Menschen von inneren Zwängen befreit wie auch von negativen Gedanken und Gefühlen. Daher interessiert mich, welche Erwartungen du vor rund 15 Jahren hinsichtlich des Erwacht-Seins hattest. 

Anna Kirsten Helmke: Oh, da waren viele Hoffnungen und Erwartungen! Ich dachte, dass man dann kein Leid mehr empfindet, das alles nur noch Bliss, also Freude und Frieden, ist. Letztlich habe ich erwartet, dass mich etwas aus diesem Schmerz holt, den das Leben mit sich bringt. Ich hätte alles getan, damit das passiert.

Das Foto zeigt Krokusse, deren Blüten aus dem Schnee herausragen. Darin sieht Barbara Nobis ein Symbol für das Bewusstsein, das aus dem Winterschlaf des Getrennseins von »Allem-Was-Ist« erwacht.
Der Begriff »Erwachen« wird sehr häufig missverständlich genutzt. Es scheint, als würde es genügen, zu sich selbst zu finden, um vom Schlaf in einer manipulierenden Gesellschaft zu »erwachen«. Das Gespräch mit Anna Kirsten Helmke zeigt: Hier ist kein Erwachen aus einer politischen Begrenztheit gemeint, sondern das Aufwachen aus dem Winterschlaf des Bewusstseins von der Getrenntheit hin zur Einheit allen Lebens. Foto von Depositphotos.com

Ein schrittweises Erwachen zum Bewusstsein der Nondualität

Mein Interesse, zu erwachen, begann vor zirka 20 Jahren mit dem Buch »Erwachen ist einfach« von Barbara Vödisch. Dieses Buch hat mich zutiefst berührt. Und dann gab es im November 2012 das erste Erlebnis von tiefem Frieden. Dieses Ereignis führte mich in Richtung Nondualität. (Anmerkung: Wörtlich übersetzt bedeutet Nondualität »ohne ein Zweites«. Laut der Advaita Vedanta Tradition ist alles eins, wobei diese Einheit nicht der Gegensatz der Zweiheit ist. Vergleiche: Narada Marcel Turnau in: UMGEKREMPELT)

Es ging bei mir jedoch immer um das Leid und den Schmerz, den ich nicht mehr haben wollte. Ich wollte aus mir heraus gehoben werden – und vielleicht auch etwas Besonderes sein. Das sollte nicht unerwähnt bleiben (lacht).

Barbara Nobis: Erzähle mir doch bitte etwas mehr über dieses erste Erlebnis des Erwachens vor elf Jahren.

Anna Kirsten Helmke: Es erwuchs aus einer Nachricht, die mich vollkommen verzweifeln ließ. Ich befand mich an diesem Tag innerlich in größter Dunkelheit. Nachdem ich abends spät schlafen gegangen war, lag ich wie eingefroren in meinem Bett und starrte an die Decke. Plötzlich war das ganze Zimmer voller Licht. Es war, als hätte plötzlich jemand das Licht angeknipst. Das Licht war strahlend weiß und in mir kam ein tiefer Frieden auf. Solch einen Frieden hatte ich zuvor noch niemals erlebt. Er erfüllte jede Zelle meines Körpers; er war überall und ich wusste in diesem Moment zutiefst, dass alles gut ist.

Das war keine herbeigesehnte Erfahrung im Sinne eines »Ja, ja, alles ist gut«. Vielmehr war tatsächlich plötzlich alles gut. Danach habe ich wie ein Baby geschlafen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich, dass nichts mehr wie vorher war. Bis zu dieser Nacht war ich eher halb bewusst auf dem Weg, dieses Erlebnis legte jedoch in mir einen Schalter um. Von nun an war mir mein Ziel ganz bewusst: Ich wollte erwachen.

Ich habe unzählige Videos von MOOJI geschaut und befand mich jahrelang im Sog der Sehnsucht nach dem Erwachen. Ich hatte jetzt ja diesen Vorgeschmack von Frieden kennengelernt. Damals dachte ich, dass ich als Erwachte immer in diesem Frieden sein werde. Das war jedoch ein Irrtum (lacht).

Anna Kirsten Helmke wollte bereits als Kind das Leben verstehen

Ein Seelenbild von Anna Kirsten Helmke
Aus dem Bewusstsein des EINEN SEINS tauchen unsere Lebenskreise auf – verbunden, verwoben und doch jedes in seiner ganz eigenen Erfahrung.© Anna Kirsten Helmke

Barbara Nobis: Was hast du denn vor dem Erwachens-Erlebnis im Jahr 2012 gemacht?

Anna Kirsten Helmke: Bereits als Kind habe ich alles hinterfragt. So habe ich meiner Großmutter bei einer Weihnachtsfeier auf die Frage, was ich denn werden wolle, geantwortet: »weise«. Bei dieser Antwort haben die Erwachsenen alle gelacht. Jedoch beschreibt das genau mein Leben. Ich bin auf die Welt gekommen, mit dem tiefen Wunsch, die Hintergründe des Lebens zu verstehen. Ich habe nie Wert auf Karriere gelegt, auf Geld oder darauf, eine Familie zu gründen. Da war etwas in mir von Anfang an, das wollte in die Liebe. Ich habe immer nach Liebe gesucht.

Worte taugen eigentlich nicht dazu, um die tiefe Erfahrung, dessen, was wirklich ist, zu beschreiben

Barbara Nobis: Man könnte jetzt darauf antworten, dass Liebe und Weisheit verschiedene Dinge sind. Das eine ist das Wissen, wie die Dinge sind, wie das Leben ist, wie Gott ist. Und die Liebe ist halt die Liebe.

Anna Kirsten Helmke: Für mich sind Weisheit und Liebe dasselbe. Die Liebe im Sinne des Erwachens ist etwas völlig anderes als die Liebe, die wir meinen, wenn wir als Persönlichkeit davon sprechen. Erwachte Liebe geht immer einher mit wahrer Freude, wahrer Weisheit und wahrem Mitgefühl. Diese Qualitäten sind im Grunde eins. Sie sind die Eigenschaft dessen, was wir wirklich sind. Die Liebe ist sozusagen the »fabric of life«, der Stoff des Lebens. Das Leben selbst ist Liebe und das Leben selbst ist Weisheit. Weisheit und Wissen sind ganz verschiedene Paar Schuhe. Wissen kann vielleicht – vielleicht – dazu beitragen, zur Weisheit zu kommen. Auch darüber kann man noch diskutieren. Weisheit ist die tiefe Erfahrung, dessen, was wirklich ist.

Barbara Nobis: Ich habe von einer Dame namens Maja Storms gelesen, die von einem Guru das so genannte »Wissen« erhielt. Letztlich ging es auch hier um Weisheit. Es ging um die Liebe als Allheilmittel für das schmerzende Leben. 

Anna Kirsten Helmke: Da haben wir jetzt genau den Punkt, der es so schwierig macht, über diese Dinge zu sprechen. Die Aborigines sind der Meinung, dass uns unsere Stimmbänder nicht für die Kommunikation gegeben wurden, sondern zum Singen. Da ist etwas Wahres dran. Sprache ist das schlechteste Mittel um sich miteinander auszutauschen, weil wir Menschen Worte zum Teil in Nuancen anders definieren. 

Eigentlich können wir nicht über Spiritualität, unser wahres Sein und das Erwachen sprechen. Unsere Sprache ist dual angelegt, aber das, was im Erwachen erfahren wird, ist absolut nondual. Am besten lässt sich das Erwachen durch die Poesie beschreiben, weil es dort immer um das innere Erleben geht, nicht um logische Zusammenhänge. Wenn wir darüber sprechen, können wir auf das Erwachen hinweisen, aber es nicht wirklich beschreiben.

Seit dem Jahr 2012 bewusst auf dem Weg zum Erwachen

Barbara Nobis: Seit dem Jahr 2012 warst du folglich zielgerichtet auf dem Weg zum Erwachen. Was hast Du in der Zeit davor beruflich gemacht?

Anna Kirsten Helmke: Ich bin gelernte Fremdsprachenkorrespondentin in Englisch und Spanisch und habe eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau absolviert. Bis zu meinem 35. Lebensjahr habe ich in diesen Funktionen für Unternehmen gearbeitet. Dann wurde ich krank und ich wusste, dass ich nicht länger in einem System-Beruf arbeiten wollte. Ich habe zunächst eine Reiki-Ausbildung gemacht und schließlich als Reiki-Lehrerin Kurse gegeben. Da war einfach der Wunsch, mit Menschen spirituell zu arbeiten. So begann meine Selbständigkeit. Zuerst kam die Entspannungstherapie dazu, dann die Kreativitätspädagogik und auch weitere Ausbildungen, wie etwas THE WORK. Letztendlich habe ich meinen ganz eigenen Stil des Coachings entwickelt. Meine Arbeit ruht dabei tief in den mir gewordenen, nondualen Erfahrungen. Mein Anliegen ist es, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen und Ihnen meine ganze Unterstützung zu geben, damit sie sich an ihre Ur-Natur der Liebe erinnern.

Mit dem Erwachen verschwand das Gefühl eines im Körper zentrierten Bewusstseins

Barbara Nobis: Es heißt, Erwachen sei eine Gnade und man könnte dafür nichts tun. Deine Entscheidung, alles für dieses Erwachen zu unternehmen, zeugt allerdings von einer bewussten Entscheidung, die Ich-Identität hinter sich zu lassen. Ist das nicht eine kontroverse Angelegenheit?

Anna Kirsten Helmke: In der Tat ist das eine Dichotomie, also ein Widerspruch, den der Verstand nicht auflösen kann. Das kann uns als Mensch wahnsinnig machen. Auch ich wollte diese Dinge verstehen und bin mit dem Kopf vor die Wand gelaufen. Das war so bis zu dem Erlebnis im Dezember 2021. Hier verschwand das Gefühl eines in diesem Körper konzentrierten Bewusstseins: Es gab kein ICH mehr. 

Stattdessen war das Bewusstsein überall und zugleich die tiefe Erkenntnis, dass das, was ich bin, in allen Formen lebt. Bei diesem Ereignis wurde vollkommen und für immer eines klar: Nichts von dem, was Anna als Mensch getan hatte, oder verursacht hatte, hatte zu diesem Ereignis geführt. Das Ereignis fand einfach statt, weil es in Wahrheit niemanden gibt. 

Das Sonnenlicht ist nur scheinbar zentriert. Vielmehr durchdringt es alles. Gleiches gilt für das Bewusstsein einer erwachten Person, deren Bewusstsein sich nicht mehr einzig auf den Körper zentriert. Foto: Depositphotos.com

Ist das Erwachen eine Gnade oder ein kosmischer Unfall?

Barbara Nobis: Können wir dann überhaupt von Gnade sprechen? So wie Du das beschreibst, hört es sich eher wie ein kosmischer Unfall an.

Anna Kirsten Helmke: Ja, ich würde es als Gnade bezeichnen, dieses Erwachen zu erfahren. Das ist das passende Wort. Die Hintergründe hat Albert Einstein mit seiner Lehre vom Wellen-Teilchen-Dualismus auf den Punkt gebracht: Welle und Teilchen existieren zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Für mich stellt die Welle reines Bewusstsein – unsere wahre Natur dar. Dieses Bewusstsein existiert in allem. Das gilt nicht nur für die Körper, sondern auch für den Zwischenraum. Da ist ein nahtloses Einssein. 

Das Teilchen ist hingegen die materielle Erfahrung. Die Welle, also das Bewusstsein formt in sich selbst einen Körper und erfährt sich durch diesen. Es erfährt sich durch den Grashalm, durch Anna und durch Barbara. Die Welle erfährt sich auch durch meine Katze, die hier herumspielt. Das EINE erfährt sich durch alles, durch jede Form. 

Die Welle ist das Bewusstsein und das Teilchen ist die Erfahrung als Form. Und wir sind beides gleichzeitig am selben Ort. So gehen wir als scheinbar getrenntes ICH einen Weg, während wir diese Sehnsucht nach dem Einssein in uns tragen. Wir glauben, ein ICH zu sein. Wir denken, das wir eine Geschichte haben und wir haben das Gefühl, dass wir eine Wahl haben, dass wir über all unsere Entscheidungen und unsere Handlungen Kontrolle haben. In der Form, also als Teilchen sind wir ganz und gar Mensch. Als Welle, die zum gleichen Zeitpunkt am selben Ort existiert, wissen wir, dass dies eine Illusion ist. 

In der gleichbleibenden Wahrheit und Wirklichkeit des EINEN Geistes geschieht nichts. Die Welle ist einfach immer da. Es ist unserem Verstand nicht möglich, dies zu begreifen. Wenn wir uns dem öffnen, das beides sein darf, kommen wir in eine Entspannung. Dies alles ist eine Gnade – das Wunder des Seins, des Lebens und des Wiedererkennens.

Mit THE WORK die Geschichten wahrnehmen, die uns davon abhalten, uns als das EINE BEWUSSTSEIN zu erfahren

Barbara Nobis:  Sorry, wenn spirituelle Coaches mich dazu anhalten, mich sooft wie möglich für die Liebe zu entscheiden, könnte ich mich dann doch gleich wie ein trotziges Kind auf den Standpunkt stellen, dass alles vorherbestimmt ist.

Anna Kirsten Helmke: Ja, wenn diese Trotz-Reaktion auftauchen würde, ist das eben so. Morgen wird etwas anderes erscheinen. Vielleicht sagt Dir irgendwann ein innerer Impuls, dass der Trotz oder ein anderes negatives Denk- und Handlungsmuster Dir nur Leid beschert und dich im Endeffekt vom Einssein fernhält. Dann werden weitere Regungen auftauchen. Vielleicht taucht dann ein JA zum Leben auf, zu Dir oder zu dem, was passiert ist oder eben nicht passiert. Letztlich ist es das Wahre Sein, das die Entscheidung trifft.

Bei jeder WORK können wir erleben, dass unsere Person nur eine Geschichte ist, mit der wir uns identifizieren. Diese Geschichte ist ein Konstrukt von Gedanken, die wir für wahr halten. Sobald wir einen Gedanken untersuchen, stellen wir fest, dass das Gegenteil genauso wahr ist. All das ist eigentlich großartig, weil wir uns als EINER Geist darin erfahren können. Und jeder bringt so seinen Geschmack mit in die Suppe. Das ist toll! Aber unser wahres Sein, also, dass was wir wirklich sind, ist der eine Geist, das EINE BEWUSSTSEIN.

Das Erwachen als Prozess zum Gefühl von »Alles-Was-Ist«

Barbara Nobis: Darum geht es ja bei dem Erwachen!

Anna Kirsten Helmke: Ja, das Erwachen ist ein sich vertiefender Prozess. Je profunder die Ereignisse sind, desto tiefer geht die Identifikation mit der eigenen Person verloren. Das ist eine Befreiung! Daraus erwächst dann dieser innere Frieden, die Ruhe und die Freude am Leben. 

Barbara Nobis: Als Teilnehmerin der Work-Ausbildung hast du uns von Deinem entscheidenen Erlebnis hinsichtlich Deines Erwachens erzählt. Dieses ereignete sich meines Wissens im Dezember 2021.

Anna Kirsten Helmke: Ja, die zwei bis drei Wochen vor dem Ereignis waren unglaublich hart. Ich hatte das Gefühl, dass alles in mir zerfallen würde. Es war, als würde meine Identität zerschmettert. Ich hatte den Eindruck, als würde ich einfach auseinandergenommen. Das war ein sehr unangenehmer Prozess, bei dem meine Identität wie in Scherben vor mir lag. Ich habe tagelang in meiner Jurte gesessen und ganz viel geweint.

Barbara Nobis: Hast Du in dieser Situation meditiert? 

Anna Kirsten Helmke: Ich habe mit Achtsamkeit reagiert und einfach gesessen und es beobachtet. Dabei habe ich versucht, über das Geschehen nicht nachzudenken, es nicht zu bewerten und einzuordnen. Einfach geschehen lassen, was geschehen möchte. Und das gipfelte dann in dieser Nacht (lacht), ich habe es wohl mit den Nächten! 

Gegen halb zwei in der Nacht habe ich mich mit meiner Katze vor die Jurte gesetzt, dick eingehüllt in eine Decke. Die Sterne schienen hell am Himmel. Ich habe sie mir angeschaut – und zum zweiten Mal wurde plötzlich ein Schalter umgelegt. Es war so, als würde ich aus meiner normalen Wahrnehmung heraus genommen und unvermittelt in eine andere Wahrnehmung versetzt. Alles war noch da: der Körper, der Sternenhimmel, die Katze. Allerdings war wiederum das Gefühl von konzentrierter Bewusstheit in meinem Körper verschwunden!  

Die Bewusstheit war überall. Sie war in jedem Blatt, in den Ästen der Bäume, im Boden, in der Bank, in meinem Bewusstsein, aber eben nicht mehr konzentriert in diesem Körper. Das hatte jetzt mit Raum und Zeit gar nichts mehr zu tun. Und damit stellte sich das tiefe Gefühl von »Alles-Was-Ist« ein, und damit auch eine unglaubliche Liebe. Ich habe kein anderes Wort dafür. Das ist etwas, dass Alles enthält, alles trägt, Und ich kann kein anderes Wort dafür finden als Liebe. Und zugleich erkannte ich, dass alles einfach auftaucht und wieder abtaucht. Es ist ein ständiges Erscheinen und Verschwinden aller Phänomene. Alles kommt aus dem EINEN. Und ich habe tief in mir gespürt, dass ich als Mensch darüber keine Kontrolle habe.

Was sich für Anna durch das Erwachen änderte …

Barbara Nobis: Warst du vor deinen Erlebnissen des Erwachens ein sehr kontrollierender Mensch?

Anna Kirsten Helmke: Oh ja, (lacht)!  In meiner Kindheit hatte ich durch bestimmte Erlebnisse dieses Kontrollieren-Wollen verinnerlicht. Einst dachte ich, dass ich in Gefahr bin, wenn ich die Dinge in meinem Leben nicht kontrollierte. Heute bin ich für die beängstigenden  Erfahrungen in meiner Kindheit sehr dankbar. Es ist alles perfekt gewesen! 

Barbara Nobis:  Du hast eben berichtet, dass Du durch das Erwachen eine unglaubliche Liebe gespürt hast. Hat dich in diesem Zustand der Glückseligkeit der Alltag sowie die Arbeit überhaupt noch interessiert? 

Anna Kirsten Helmke: Zunächst war da ein Raum von tiefem Frieden und dem Gefühl, das alles, so wie es ist, wunderbar ist. Es gab da zunächst kein Bestreben mehr, ein Projekt zu entwickeln und dies und das zu tun. Dieser Zustand dauerte ungefähr sechs Monate. In dieser Zeit habe ich sehr viel gemalt und Musik gemacht. Irgendwann tauchte dann doch wieder der Impuls auf, konkreter zu werden und meine Rolle hier zu erfüllen. So wie Anna hat jeder hier seinen Raum, seinen Platz, sein Ding und das dürfen wir auch ausfüllen. Aber jetzt wirkt Anna, also ich, von einem ganz anderen inneren Standort aus. 

© Anna Kirsten Helmke

Wie das Erwachen die Selbstliebe verändert

Barbara Nobis: Byron Katie ist ja ein Beispiel dafür, dass das Erwachen helfen kann, sich selbst und andere zu lieben. Meines Wissens war sie vor ihrem Erwachen nicht nur depressiv, sondern auch extrem wütend auf sich und die Welt. Byron verbrachte die Nacht auf dem Fußboden, weil sie sich nicht als wertvoll genug empfand, in einem Bett zu schlafen. Beim Erwachen wurde auch sie innerlich auseinandergenommen. Danach liebte sie plötzlich sich selbst und die anderen – ebenfalls vom Standpunkt der Liebe, die dem »Alles-Was-Ist« entspringt. Was also hat das Erwachen mit deiner Selbstliebe gemacht? 

Anna Kirsten Helmke: Ich liebe mein Selbst! Bis zu meinem Erwachen dachte ich, dass ich wüsste, was Selbstliebe ist. Aber dem war nicht so. 

Barbara Nobis: Kannst Du das erläutern? 

Anna Kirsten Helmke: Ich habe mich vorher immer um Selbstliebe bemüht. Viele kennen die Leitlinien von »Öffne Dein Herz« und »Liebe dich selbst«. Diese Sätze stehen in jedem zweiten Buch. Ja, ich wollte gerne mein Herz für mich selbst öffnen. Mir war auch klar, dass ich ohne Selbstliebe keinen anderen lieben kann. Ich habe ab dem Jahr 2012 an dieser Selbstliebe gearbeitet. Das war jedoch nicht zu vergleichen mit dieser tiefen Liebe, die ich im Dezember 2021 erfahren habe. Jetzt kommen wir wieder in den Bereich der Worte, die es eigentlich unmöglich machen, diese Liebe zu beschreiben: Alles, was ich bin, ist Liebe! Alles, was aus mir kommt, ist Liebe! Das ist mir jetzt bewusst. Natürlich liebe ich auch Anna. Allerdings umfasst diese Liebe alles. Denn alles bin ich. 

Die Mohnblume symbolisiert das ewige Leben der Seele – im Hinduismus ist sie ein Symbol für Erwachen aus dem Traum der Getrenntheit. © Anna Kirsten Helmke

Wie eine Erwachte einen aggressiv handelnden Mitmenschen erlebt

Barbara Nobis: Umfasst diese Liebe, die Du bist, auch einen aggressiven Nachbarn, der vor deiner Jurte steht und dich anbrüllt? 

Anna Kirsten Helmke: Oh ja! Im letzten Herbst hat er wieder etwas gegen meine Jurte geworfen und herumgebrüllt. Ich schaue ihn dann mit meinen inneren Augen an. Er steht draußen und ich in der Jurte und sehe mich selbst. Er ist ich und ich bin er. Es ist so wie es ist. Als Mensch in dieser Raum-Zeit-Erfahrung unternehme ich selbstverständlich meine Schritte, um mich und die Jurte zu schützen. Wenn ich ihm seine Grenzen zeige, ist das ihm gegenüber ein liebevoller Akt. Innerlich bin ich jedoch mit ihm im absoluten Frieden. Dies so wahrnehmen zu können, ist ein unglaubliches Erlebnis. Manchmal stehe ich nachts im Garten, schaue auf sein Haus und lasse meine ganze Liebe zu den Menschen in diesem Haus fließen. 

Barbara Nobis: Und in dem Moment, wo er vor dir steht und sich dir gegenüber aggressiv benimmt? Will da nicht dieser Teil, der auf den Namen Anna hört, zurückschimpfen oder fliehen?

Anna Kirsten Helmke: Bleiben wir beim Beispiel vom Herbst 2022. Ich befinde mich in meinem Badezimmer, das zirka eineinhalb Meter vom Zaun meines Nachbarn entfernt ist. Er steht direkt hinter dem Zaun und beginnt in übelster Art und Weise loszubrüllen. Er muss auch wieder etwas gegen die Jurte geworfen haben, denn es knallt. Was passiert in Anna? Der Körper schüttet Adrenalin aus und drängt damit zur Flucht oder zur Verteidigung. Da tauchen in Anna entsprechende Gedanken und Emotionen auf: »Oh Gott, der schon wieder!« Da sind ganz schwach auch Aggressionen zu spüren, vor allem aber ein Erschrecken. 

Im Gegensatz zu früher tauche ich jedoch nicht mehr tiefer in dieses Geschehen ein. Vor dem Erlebnis des Erwachens hätte ich mich wahrscheinlich umgedreht, um mehr zu sehen. Vielleicht hätte ich auch beschlossen, dem Nachbarn eine gepfefferte E-Mail zu schreiben oder sofort den Anwalt zu kontaktieren. All das passiert nicht mehr. Die Situation mit dem Nachbarn taucht auf –  mitsamt den Körpergefühlen und Emotionen. Dass, was ich bin, beobachtet das Geschehen. Der Frieden und die Identifikation mit dem, was ich wirklich bin, das ist meine Basis. Alles andere taucht auf und verschwindet wieder.

Empfehlenswerte Bücher zum Thema »Erwachen«

Barbara Nobis: Kommen wir zum letzten Punkt des Interviews. Welchen Lesetipp hast Du für unsere Leser/-innen zum Thema Erwachen und Selbstliebe?

Anna Kirsten Helmke: Menschen, die Bücher zum Erwachen suchen – und in diesem Sinne auch den Weg zur wahren Selbstliebe, empfehle ich alle Bücher von Eckhart Tolle. Die Bücher von Richard Sylvester finde ich super. Das gilt insbesondere für die Bücher »Niemand« und »I hope you die soon«. Letzteres Bändchen gibt es nur in Englisch. Wenn sich jemand noch nicht mit der Nondualität beschäftigen will, finde ich die Bücher von Louise Hay gut, so etwa »Heal your life« sowie »Heart thoughts«, die auch in deutscher Übersetzung erhältlich sind. Auch die Bücher von Melody Beattie sind sehr, sehr gut.

Mit »Wie komme ich da bloß wieder raus?« haben Maria und Jörg Groß-Wedereit ein weiteres lesenswertes Buch geschrieben. Der Untertitel »Eine schonungslose Offenlegung deiner Welt – betrachtet aus einer befreiten Welt« deutet an, dass es sich um ein absolut ehrlich geschriebenes Buch handelt. Deshalb ist es eine harte Kost für diejenigen, die an ihrem Ego und ihrem Verstand festhalten wollen. Aber dieses Buch ist unglaublich klar und ähnelt darin der Klarheit von Richard Sylvester.

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