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DIE VIER WINDE

Rezension des Romans DIE VIER WINDE 

Lesedauer:7 Minuten
Buchtitel:DIE VIER WINDE
Lesesterne:***** (5 von 5 Sternen)
Autor:Kristin Hannah 
Rezensentin:Barbara Nobis

Wie lernfähig ist der Mensch? 

Ein schwarzes Cover mit goldgelben Weizenähren. Auf dem Buchdeckel prangt in goldenen Buchstaben der Titel des Romans DIE VIER WINDE. Das Cover wirkt streng, fast düster. Dazu passt der Prolog, in dem es um den amerikanischen Traum geht. Dieser wurde insbesondere für die Frauen zum Albtraum. Der Prolog nimmt eine wichtige Rede vorweg, die Elsa Martinelli, die Protagonistin, am Ende dieses Romans halten wird. Als sie die Worte des Prologs spricht, hat sie bereits einen weiten Weg zurückgelegt. Sie hat das Selbstbild der wohl situierten, jedoch ungeliebten abhängigen Tochter hinter sich gelassen und ist zu jener selbstbewussten Frau gereift, die mutig für ihre Rechte als Amerikanerin kämpft.

Den Roman könnten Leser/-innen deshalb als spannende Einführung in die neuere amerikanische Geschichte nutzen. DIE VIER WINDE demaskieren zugleich die Machenschaften eines unsozialen Kapitalismus, der die Politik vor seinen Karren spannt. Folglich bietet sich auch eine politische Lesart an. Zu guter Letzt ist dieser Entwicklungsroman auch spirituell interessant. Denn für die Protagonistin stellt sich immer wieder die Frage, wer sie wirklich ist – und ob sie zum Mut findet, ihr authentisches Fühlen und Sein zu leben. Und ist die Frage nach dem »Wahren Selbst« und der eigenen Authentizität nicht auch eine Kernfrage für spirituelle Menschen? 

Cover der Online-Ausgabe von DIE VIER WINDE

DIE VIER WINDE: Scheinbare Sicherheit durch gesellschaftliche Vorgaben

Um Elsas innere Entwicklung darzustellen, stellt die amerikanische Autorin Kristin Hannah ihre Protagonistin vor immer größere Herausforderungen. Zunächst wagt die vom Leben weggesperrte Elsa es, sich ein rotes Kleid zu nähen und trotz Verbots auszugehen. Ihre Eltern leben für den schönen Schein. Ihnen ist ein guter Ruf immens wichtig. Darüber setzt sich Elsa hinweg. Danach hat sie viele weitere Entscheidungen zu treffen: Darf sie ihre geliebten Schwiegereltern Rose und Tony auf ihrer texanischen Farm im Stich lassen, um mit ihrem Ehemann Raffaelo und den beiden Kindern Anthony und Loreda der dürrebedingten Armut zu entkommen?

Lange Zeit hält sich Elsa an der scheinbaren Sicherheit fest, die ihr das Leben auf dem Hof ihrer Schwiegereltern bietet. Dieser schützende Rahmen ergibt sich aus der Selbstbestätigung durch die harte, ehrliche Arbeit. Zudem erhält sie mit der Zeit mehr und mehr Wertschätzung von ihren Schwiegereltern. Darüber hinaus liebt auch der kleine Anthony seiner Mutter bedingungslos. Und ja, mit ihrem Mann Raf(faelo) führt Elsa zumindest in den ersten Ehejahren eine leidlich gute Beziehung. Immer wieder nimmt sie sich vor, wahre Intimität zuzulassen. Sie verschiebt dieses Vorhaben allerdings immer wieder wegen ihres negativen Selbstbildes.

Wo findet der Mensch Sicherheit, wenn im Außen alles zusammenbricht?

Das Glück währt so lange, bis die äußere Sicherheit schwindet. Dazu lässt die Autorin Kristin Hannah in DIE VIER WINDE  ihre Heldin Elsa im Jahr 1934 auf einer texanischen Farm leben. Zu diesem Zeitpunkt hat es dort bereits seit vier Jahren nicht mehr geregnet – und es sollen weitere sieben Jahre der Trockenheit folgen. Diese Dürre ist kein Fantasieprodukt der Autorin. Nein, wer im Internet die Begriffe »Dust Bowl Texas« oder »Black Sunday Texas« eingibt, stößt auf eine traurige Periode der amerikanischen Zeitgeschichte. Da gab es heftige Staubstürme, die fruchtbare Ackerböden in Staubwüsten verwandelten. Bis zum Lesen des Romans wusste auch ich nichts davon. 

DIE VIER WINDE: Hintergründe des Romans

Kristin Hannah verwandelt das historisch dokumentierte Elend in eindringliche, fiktive Szenen. Sie beschreibt aus der Sicht Elsas und der anderen Familienmitglieder, wie sie der scheinbar unbarmherzigen Natur Wasser und Lebensmittel abringen. Die Leser/-innen werden Zeuge, wie sich die einst gut gefüllten Lebensmittelregale im Keller der Martinellis bis auf die blanken Bretter leeren. Des Weiteren müssen sie zuschauen, wie Tiere und Menschen erkranken und sterben. Zusammen mit den Martinellis erfahren die Leser/-innen, wie Schulden, Hunger und Armut den Alltag bestimmen.

Die Regierung in Washington kümmert das Schicksal der Farmer in den Grain Plains kaum. Warum auch? Da gibt es doch die Mär vom amerikanischen Traum; da herrscht in den Köpfen die Vorstellung, dass Eigenverantwortung und Leistungswille die Schmiede für jedermanns Glück sind. Überhaupt: Für die »Black Blizzards«, so heißt es bereits damals, seien die Farmer selbst verantwortlich. Sie hätten eben nicht aus übersteigertem Gewinnstreben riesige Prärieflächen in Ackerland umwandeln dürfen. Bis dato hatte das Präriegras die Feuchtigkeit im Boden gehalten und verhindert, dass in Dürreperioden der Boden weggeblasen wurde. 

Der Mut, für sich einzustehen

Dieses nicht ganz so rühmliche Kapitel der amerikanischen Geschichte setzt sich zudem mit der Ausbeutung und Erniedrigung der Wanderarbeiter/innen durch die kalifornischen Großfarmer fort. Kristin Hannah mutet ihrer Heldin Elsa in DIE VIER WINDE dieses Schicksal zu. Es ist, als stelle sie ihrer Protagonistin stets die gleiche Frage: Elsa, wer bist du wirklich? Wie viel Leid und wie viel Liebe braucht es, damit du zu dir und deinen Gefühlen stehst? Wie viel Leid und wie viel Liebe benötigst du, bis du dein negatives Selbstbild revidierst? Kristin Hannah erfand zu diesem Zweck auch die Figur des Großvaters, an dessen Ratschlag Elsa sich während ihrer Heldenreise fortlaufend erinnert. Er lautet: Sei mutig! 

»Du darfst keine Angst haben, Elsa, nicht einmal vor dem Tod. Viel schlimmer ist es, das Leben nicht zu leben. Sei mutig.«

Lesestelle: 3,7 Online-Ausgabe DIE VIER WINDE

Nochmals: Wie lernfähig ist der Mensch? 

Kristin Hannah befolgt genau das, was Schreibtrainer angehenden Autoren ans Herz legen: Sie beschreibt die Szenen wie eine Filmemacherin, die mit der Kamera das Wesentliche einer jeden Situation dokumentiert. Von Szene zu Szene, von Kapitel zu Kapitel erfahren Elsa als auch ihre Tochter Loreda sehr viele (teils unangenehme) Wahrheiten über sich. Insgesamt tragen jedoch all diese Entdeckungen dazu bei, sich selbst (und dem anderen) näher zu kommen. 

Hinsichtlich der dargestellten Missstände wirft der Roman jedoch kein gutes Licht auf die Lernfähigkeit des Homo Sapiens. Das wird unter anderem an der Figur des Jack Valen deutlich. In DIE VIER WINDE lässt Kristin Hannah den  Kommunisten vom historisch belegten Brand in der New Yorker Triangle Shirtwaist Factory erzählen. Im Roman wurzelt Jacks Einsatz für die entrechteten Wanderarbeiter im Tod seiner Mutter. Die Näherin konnte damals nicht aus dem brennenden Gebäude fliehen. Der Fabrikeigner hatte die Türen absperren lassen, damit die Arbeiterinnen keine unerlaubte Pause einlegten. Selbst wenn Jacks Mutter der Feder von Kristin Hannah entsprungen ist, steht sie doch für die 146 Menschen, die am 25. März 1911 wegen der verschlossenen Türen im Gebäude verbrannten.

Mich erinnerte die Erzählung an den Brand in der Textilfabrik von Bangladesch im November 2012 sowie an den Einsturz des Rana Plaza am 24. April 2013, in dem Textilarbeiter/-innen für bekannte Modemarken Kleidung nähten. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hatten das Management vor dem Einsturz des Gebäudes auf die Risse im Gemäuer aufmerksam gemacht. Sie wurden jedoch aufgefordert, weiter ihrer Arbeit nachzugehen. Nach wie vor arbeiten laut FEMNET Arbeiterinnen unter unmenschlichen Bedingungen in indischen Spinnereien und Textilfabriken. Sind wir Menschen lernfähig? Offenbar nicht, wenn es um unseren Profit geht.

Fazit des Romans DIE VIER WINDE

Wie bereits gesagt, handelt es sich um ein fesselnd geschriebenes Werk. Es könnte sein, dass einige Leser/-innen es als »zu langatmig« empfinden, wenn Kristin Hannah, detailreich und aus mehreren Perspektiven die Auswirkungen der Dürre beschreibt. Allerdings gelingt es der Autorin so, die fortwährende Enttäuschung der Figuren lebendig werden zu lassen. DIE VIER WINDE ist folglich kein leichtfüßiger Roman, sondern eine Geschichte, die mich nachdenklich zurückgelassen hat. Wo trage ich Verantwortung? Wo bin ich authentisch? Baue ich auf die äußere oder die innere Sicherheit? Und wann ist es Zeit, aus bedingungsloser Liebe den Menschen gegenüber politisch zu handeln?  Elsa, die Protagonistin des Romans DIE VIER WINDE kann sich zum Schluss des Buches all diese Fragen beantworten. 

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