Vier Gründe, warum spirituelle Werte unsere Gesellschaft erreicht haben
Spirituelle Werte wie Achtsamkeit, Meditation, Veganismus und ökologisches Handeln zählen in unserer Gesellschaft mittlerweile zu den anerkannten Werten. Und bei der Fotosuche unter »Spiritualität und Gesellschaft« erhielt ich eine reichliche Auswahl an Darstellungen, bei denen Eltern mit ihren Kindern Asanas (Yogahaltungen) üben. Vor 25 Jahren wäre wahrscheinlich keines dieser Fotos aufgetaucht.
Bis zum Ende der 1980iger Jahre hätte die Mehrheit der Deutschen den Begriff Yoga in die exotisch-spirituelle Schublade gesteckt. Da interessierte sich die Gesellschaftsmitte eher für Fitness- und Aerobic-Kurse oder fürs Bodybuilding. Yoga galt damals als Angelegenheit der Hippies, die irgendwelchen indischen Gurus folgten.
Heute, vierzig Jahre später, hat sich vor allem der Hatha-Yoga zur angesagten Sportart entwickelt, der in fast allen Fitness-Centern und Volkshochschulen gelehrt wird. Wer es ein bisschen spiritueller mag, findet gefühlt an jeder Ecke ein Yogastudio, das zum Mantrasingen, zur Meditation oder zum Atemworkshop einlädt. Zeigt dies bereits, dass die Spiritualität im Alltag unserer Gesellschaft präsent ist? Meines Erachtens deutet einiges darauf, dass in der deutschen Gesellschaft spirituelle Werte im Trend liegen. Spiritualität verstehe ich hier etwas verkürzt als Sehnsucht, Sinn im eigenen Leben zu finden. Ich begreife sie in diesem Artikel als Verbundenheit zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zum Planeten.
Grund 1: Immer mehr Konsumgüter nutzen spirituelle Werte als Verkaufsargument
Der erste Grund, der dafür spricht, dass spirituelle Werte die Gesellschaft durchdringen: Immer mehr Produkte beteuern bereits durch ihren Namen, mir zu einem sinnvollen Leben in Einklang und Verbundenheit verhelfen zu wollen. Dafür muss ich noch nicht einmal ins Reformhaus. Nein, den Yogi-Tea bekomme ich mittlerweile im Supermarkt. Im gleichen Regal finde ich Kräutertees der Marke Teekanne, die sich der »Harmonie für Körper und Seele« verpflichtet fühlen. Ebenfalls bietet der Mitbewerber Meßmer im Segment »Detox your feelings« Genussmomente »ganz für dich und deine Seele«.
Wie bitte? Warum werben alteingesessene Konzerne auf einmal mit jenen Werten, die früher das Alleinstellungsmerkmal des »Yogi Tea« waren? Ist das Vorhandensein dieser Produkte beim Discounter nicht ein klarer Hinweis darauf, dass spirituelle Werte derzeit die Mitte der Gesellschaft erreicht haben?
Bleiben wir bei unsrem Wocheneinkauf im Supermarkt. Unweit der ökologisch-einwandfreien und fair produzierten Tees stehen Marmeladengläser mit der simplen Aufschrift »Glück«. Danach gibt es einen »Seelenwärmer«. Nein, das ist keine Hühnersuppe (für die Seele), sondern ein Pudding von Dr. Oetker.
Gleich nebenan im Drogeriemarkt fällt mir ein Parfüm der Marke Tom Tailor auf. Sein Name »be mindful« fordert mich dazu auf, Achtsamkeit an den Tag zu legen. Alles nur ein Marketingtrick, weil uns derzeit eine Achtsamkeitswelle überrollt? Sicher. Allerdings befinden sich Marketing-Experten stets am Puls der Zeit. Sie richten ihre Strategie nach den Sehnsüchten der Menschen aus. Und hier scheint es klar, dass spirituelle Werte in unserer Gesellschaft als Label zum Verkaufsargument avanciert sind.
Vor dreißig Jahren hätte sich wohl kein Kunde mit einem Parfüm identifizieren wollen, das ihn zur Achtsamkeit mahnt – und damit zum (Selbst)Mitgefühl sowie zur Konzentration auf das JETZT. Als auffällig empfinde ich ebenfalls die vielen Buddhas, die mir in Kaufhäusern, Gartencentern und Vorgärten entgegenlächeln.
Hinweis 2, dass spirituelle Werte in der Gesellschaft angekommen sind: Achtsamkeit und Meditation gehören bereits in einigen Schulen und Firmen zur Alltagsroutine
Es scheint, als seien die Buddhas im Vergleich zum Wackel-Dackel auf der Autoablage keine reine Modeerscheinung – womit wir beim zweiten Grund sind: Die Achtsamkeit ist in Deutschland ein (spiritueller) Wert, der einen guten Ruf genießt. So setzten sich im Januar 2021 die Oberstufenschüler eines Unnaer Gymnasiums im Sportunterricht mit dem Achtsamkeitsprogramm »Mindful Based Stress Redcuction (MBSR)« auseinander. Sie fertigten ein Referat an, dass sich auf ein Interview mit Jon Kabat-Zinn bezog, der diese Methode begründete. Der Molekularbiologe, der nicht als Buddhist gelten will, sieht sich jedoch als Anhänger der buddhistischen Meditation.
Stopp. Ermöglicht die Meditation etwa keine spirituellen Erfahrungen? Und eröffnen die Atem- und Konzentrationsübungen dem Praktizierenden nicht den Weg in Richtung Lebenssinn und allumfassender Verbundenheit? Vielleicht haben Achtsamkeits-Apps wie »CALM« oder »headspace« auch aus diesen Gründen zahlreiche Fans.
Darüber hinaus sind Achtsamkeit und Self-Awareness auch bei Firmen wie Bosch und SAP beliebt. Ihnen geht es jedoch nicht um Sinnfindung, sondern um die Effizienz ihrer Mitarbeitenden. Jon Kabat-Zinn glaubt jedoch nicht daran, dass der Einsatz des MBSR-Programms in Unternehmen das Konzept der Achtsamkeit korrumpieren könne. Sie ist seiner Meinung nach vergleichbar mit der Kampfsportart AIKIDO, die es dem Gegner (dem Kapitalismus) unmöglich macht, seinen Angriff fortzusetzen.
Grund 3: Spiritualität und Veganismus sind wie Topf und Deckel
Ein dritter Grund, der dafürspricht, dass spirituelle Werte die Mitte der Gesellschaft erreicht haben, ist die stetig wachsende Zahl der Vegetarier und Veganer. In Deutschland gibt es mittlerweile rund 6 Millionen Menschen, die sich vegetarisch ernähren. Hinzu kommen 1,13 Millionen Veganer (vergl. Statista 2020). Gefragt nach ihren Gründen sagten sie, es gehe ihnen um das Wohl der Tiere (95 Prozent) sowie um den Umweltschutz und die Nachhaltigkeit (84 Prozent). Nur knapp vier Prozent der Veganer wählte diese Ernährungsform aus religiösen Gründen.
Der Vormarsch der vegetarischen und veganen Ernährung scheint folglich nicht spirituell begründet zu sein. Allerdings ist dies meiner Meinung nach nur vordergründig der Fall. Schließlich empfahl bereits die Bhagavad Gita eine vegane Ernährung. Ebenfalls finden sich in der Bibel (zum Beispiel in den Seligpreisungen) sowie im Koran (zum Beispiel in Sure 10:41) trotz manch gegenteiliger Verse immer wieder der Aufruf zum Gewaltverzicht. Überdies zählt die Gewaltlosigkeit und das Nicht-Verletzen (Ahimsa) zu den wichtigsten Prinzipien bei den östlichen Religionen. Sie ist auch ein Grundsatz des Integralen Yogas nach Swami Sivananda, in dessen Tradition Yoga Vidya steht. Unter dem Stichwort »Veganismus« findet sich hier folgender Eintrag:
» … Im Veganismus sieht sich der einzelne in Verbindung mit dem Kosmos. Der Veganer denkt nicht nur an seine eigenen Bedürfnisse, sondern an die Bedürfnisse aller lebenden Wesen. Für den Veganer sind alle Lebewesen wertvoll, nicht nur in ihrem “Nutzwert” für den Menschen. Der Veganer sieht Menschen und Tiere als denkende und fühlende Wesen an. Für den Veganer haben auch Tiere eine der Menschenwürde vergleichbaren Würde. …«
Spirituell ausgerichtete Menschen messen nicht nur den Tieren Würde zu, sie fühlen sich ebenfalls verantwortlich für das Wohlergehen unseres Planeten. Dies veranschaulichen die letzten Bücher von Llewellyn Vaughan-Lee, dem ehemaligen Leiter des »The Golden Sufi Center«. Der Name seiner jüngsten Publikationen ist Programm: »Spiritual Ecology. The CRY of the EARTH» und »Handbook for Survivalists. Caring for the Earth«.
Ist das der Grund, warum mir bei sämtlichen spirituellen Seminaren, die ich besuchte, ausnahmslos vegane Verpflegung angeboten wurde? Die Spiritualität scheint daher zum Veganismus wie der Topf zum Deckel zu passen.
Der vierte Hinweis dafür, dass spirituelle Werte in unserer Gesellschaft gelebt werden: Immer mehr Produkte erleichtern es uns, Spiritualität im Alltag zu leben
Kommen wir jedoch zurück zum Alltag und zum Einkauf im Supermarkt, der auf den ersten Blick kein spirituelles Terrain darzustellen scheint. Der Soziologe Jörn Höpfner bezeichnet unsere Einkaufstempel als »Petrischale der Gesellschaft«. Schließlich spiegeln die Produkte, die wir in den Einkaufswagen legen, unsere Wertvorstellungen.
Was finden wir dort? Zunehmend unverpacktes (Bio) Obst und Gemüse aus der Region, Öko-Waschmittel, vegane Fleischersatz-Produkte, fair produzierte Hafermilch, Karottensuppe aus geretteten Möhren, Recycling-Taschentücher, belgische Fairtrade Organic Biopralinen – allesamt verziert mit zig Labeln, welche die Nachhaltigkeit sowie die Tier- und Klimafreundlichkeit belegen sollen.
Vielleicht rümpfen Sie nun die Nase, weil Ihnen die Standards der Öko-Zertifikate nicht koscher erscheinen. Ja, es ist noch nicht alles in Butter! Ja, es gibt noch zu viel Plastikmüll! Und dennoch lohnt sich ein Blick zurück, um zu registrieren, dass sich auch in diesem Bereich einiges zum Positiven verändert hat. Mittlerweile wurden die Plastiktüten von den Kassen verbannt. Zudem werde ich nicht mehr gefragt, warum ich beim Einkauf von losem Obst keinen Zellophan-Beutel nutze. Noch vor zehn Jahren wurde ich immer wieder darauf angesprochen.
Ob ökologisch, bio oder vegan – noch nie war es so leicht, guten Gewissens im Supermarkt einzukaufen. Sind dies nicht die ersten Anzeichen, dass ethisches Denken und Handeln in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist? Machen Sie sich beim Einkauf nicht ebenfalls zunehmend Gedanken darüber, welches Produkt besser für Umwelt, Mensch und Tier ist? Ist dies einzig in der Angst vor dem Klimawandel begründet? Oder kurbelt nicht vielleicht auch die Sehnsucht nach Sinn und Verbundenheit mit »Allem-Was-Ist« den gedanklichen Turnaround unserer Gesellschaft an? Quasi versteckt und um die Ecke?