Spiritualität im Alltag,  Uncategorized

Kundalini und Trauma: Warum schnelle Heilung selten funktioniert

Trauma & Kundalini: Die Grafik illustriert, das kindliche Traumata  die Sehnsucht nach dem (Kundalini)Erwachen fördert.
Frühe Traumata verhindern das Lebensgefühl, gehalten zu werden und Sicherheit zu spüren – und machen es schwer, sich in diesem Leben wirklich zuhause zu fühlen. Daher ist es verständlich, nach dem“ ›Großen Ganzen‹ hinter diesem Dasein zu suchen. Spirituelle Praktiken wie Kundalini-Yoga oder die Teilnahme an Kundalini-Aktivierungs-Sessions wirken dann oft wie ein Rettungsschirm, der es ermöglicht, hinter den Vorhang der eigenen, unwirtlich erlebten Existenz zu blicken. Foto: Depositphotos.com

Lesedauer des Artikels: 7 bis 9 Minuten

Ich schreibe diesen Artikel nicht als jemand, der dank Kundalini oder The Work »‚geheilt« ist. Ich veröffentliche diesen Text als Frau, die mitten im Prozess steckt. Zudem schreibe ich diese Zeilen, um darüber zu informieren, wie Trauma und Kundalini beziehungsweise der Wunsch nach spirituellem Erwachen zusammenhängen. Außerdem zeige ich, warum schnelle Heilversprechen oft problematisch sind. Darüber hinaus teile ich meine Erfahrungen aus einer Haltung der traumasensiblen Spiritualität. 

Kundalini – eine kraftvolle Energie, die im Körper schlummerndes Potenzial aktivieren soll – und Trauma – tief verankerte Wunden aus frühester Kindheit – scheinen auf den ersten Blick Gegensätze zu sein. Doch für viele Suchende sind sie eng verwoben.

Denn: Auch wenn nicht jeder spirituell Suchende traumatisiert sein muss, scheint es unter denen, die beispielsweise mittels Kundalini-Aktivierungen ein Erwachen anstreben, viele sensible Seelen zu geben, die in frühester Kindheit verletzt wurden – mich eingeschlossen.

Meiner Beobachtung nach schafft eine frühe Bindungsnarbe oft die Voraussetzung, sich auf den spirituellen Weg zu begeben. Wenn sich Körper und emotionales Gedächtnis nämlich in diesem Leben nie wirklich zuhause fühlen, ist es verständlich, nach dem «Großen Ganzen» hinter diesem Dasein zu suchen.

Die Unwirtlichkeit der eigenen Existenz spiegelt der Körper etwa als Schwindelgefühl, Verdauungsprobleme, als Ekel vor bestimmten Körperteilen sowie als diffuse Spannungszustände ohne medizinische Ursache. Typische Trauma-Folgen wie Angst vor Nähe, Verlassenwerden oder grundlose Scham können den spirituellen Weg prägen – und ihn gleichzeitig erschweren.

Um mit den meist unerkannten Traumafolgen fertig zu werden, entwickeln Traumatisierte oft Gegenstrategien wie etwa ein ausgeklügeltes Kontrollverhalten oder eine extreme Leistungsbereitschaft bis hin zum wiederholten Burnout. Um es klar zu stellen: Diese sensiblen Seelen funktionieren trotz ihrer Traumen scheinbar einwandfrei in dieser Gesellschaft. Dennoch tragen viele dieser verletzten Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Heilung in sich. Vielleicht ist es sogar diese Sehnsucht, die sie auf den spirituellen Weg bringt?

Und was ist mit dem Körpergedächtnis eines traumatisierten Menschen? Ein solcher Körper ist nicht gegen Spiritualität, aber er nähert sich ihr auf eine andere Weise. Er sucht etwas, das Halt gibt – und stößt oft auf spirituelle Heilungskonzepte, die den Körper und das Nervensystem eines Traumatisierten in einen Ausnahmezustand versetzen. Und was passiert, wenn der tief verletzte Mensch auf Settings trifft, die sein Körpergedächtnis überfordern?

Nicht jedes Gruppensetting  bzw. Retreat ist bei einem Trauma heilsam - vor allem, wenn die Teilnehmerbedüfrnisse  nicht erkannt werden.
Räucherrituale und bestimmte Heilmethoden bilden in den meisten Retreats den Rahmen für Heilung. Doch wenn die Methode über die individuellen Sicherheitsbedürfnisse der Teilnehmer:innen gestellt wird, riskieren solche Praktiken, alte Wunden aufzureißen – ohne dass es jemand merkt. Die Folge: Traumatisierte fühlen sich erneut »falsch« – und für nicht therapierbar. Foto: Depositphotos.com

Auf Instagram und in anderen sozialen Medien sieht man immer wieder dieselben Szenen: Eine Frau schreit, ein Mann zittert, jemand krümmt sich, jemand weint. Emotionale Ausbrüche werden hier oft als »Traumalösung« gefeiert. Dies geschieht insbesondere im Kontakt von Kundalini-Aktivierungen und Breathworksession. 

Doch meine Erfahrung zeigt: Nicht jede laute Reaktion bedeutet Heilung. Manchmal verbirgt sich dahinter schlicht Überwältigung. Umgekehrt bedeutet das auch: Nicht jede stille Reaktion in einer Session ist Widerstand. Sehr oft ist sie der einzige Weg, wie ein verletztes Nervensystem überhaupt solch eine Sitzung ertragen kann.

Es gibt Menschen, die in diesen Settings völlig aufgehen, die sich fallenlassen, die den Körper sprechen lassen. Und es gibt Menschen, deren Körper auf eine solche Intensität mit Rückzug reagiert – und zwar über Monate, weil niemand hinter diesem Widerstand ein Trauma erkennt. Die tief verletzten Menschen fühlen statt Befreiung dann subtile Spannungen und das Gefühl, zu versagen. Möglicherweise spüren sie Ekel, Scham oder können nicht loslassen, weil sie alles »richtig« machen wollen. Ich gehöre eindeutig zur zweiten Gruppe. Mein Körper reagiert stiller, tiefer und oft auch schmerzlicher. Das macht ihn nicht »falsch«. Mein Körper zeigt einfach, was gerade ist. 

Viele spirituelle Anbieter fordern dazu auf, den Weg »richtig« zu gehen, loszulassen, sich der Energie zu öffnen, das Ego aufzugeben oder »durch den Widerstand hindurchzugehen«. Dies gilt insbesondere für Breathwork-Sessions sowie für Kundalini-Aktivierungen. Für manche mag das Konzept des Loslassen des Widerstands problemlos funktionieren. Für Menschen mit traumatischem Hintergrund ist diese Erwartung jedoch heikel.

Widerstand ist kein Problem, den man »wegatmen« oder in den man sich fallen lassen müsste. Widerstand ist ein Schutzmechanismus, der oft in den ersten Lebensjahren entstanden ist, als Überforderung die einzige Konstante war. 

Wenn jemand als Kleinkind gelernt hat, dass Nähe oft schmerzvoll ist, dann werden ihn spirituelle Beziehungen und Praktiken mit diesem Schmerz konfrontieren. Warum? Settings wie Gruppensitzungen oder die Beziehung zum spirituellen Coach führen unweigerlich zur gefürchteten Nähe und zur Durchsichtigkeit. Und selbst wenn sich ein Traumatisierter mit großem Hallo einmal zu öffnen vermag und dabei gehalten wird, heißt das noch lange nicht, dass dieses eine Mal all die Jahre von Schmerz und Einsamkeit aus dem Zellgedächtnis löscht. Heilung braucht eben Zeit und einen behutsamen Umgang mit Nähe.

Schnelle Traumalösung in 60 Minuten? Das Risiko sind Überforderung und Re-Traumatisierung.
Einige Anbieter von Kundalini-Aktivierung und Breathwork versprechen, Traumata binnen einer 60-minütigen Sitzung zu lösen. Doch für traumatisierte Menschen besteht in solchen Settings die Gefahr von Überforderung und Retraumatisierung. Foto: Depositphotos.com

Nicht nur bei der Aktivierungen von Kundalini finde ich das Versprechen, Traumata zu lösen,  riskant. So wirbt ein Anbieter beispielsweise für eine Breathwork-Ausbildung, die den künftigen Fascilitator dazu befähigen soll, in einer Stunde tiefe Blockaden lösen zu können. Ohne eine langwierige Ausbildung soll es möglich sein, Trauma zu bearbeiten und durch ein bestimmtes Atemmuster das Gehirn eines traumatisierten Menschen fix zu »reprogrammieren« Diese Versprechen triggern die Hoffnung vieler, selbst wenn sie nicht stimmen.

Kein Atemmuster der Welt heilt eine Kindheitsverletzung in sechzig Minuten. Und ein traumatisierter Körper reagiert auf äußeren Druck häufig mit Widerstand – ein gesunder Schutzreflex. Täte er dies nicht, könnte es sein, dass ein Mensch in dieser Session re-traumatisiert wird. Tiefes, nachhaltiges Loslassen entsteht durch Vertrauensaufbau und sanfte Prozesse, nicht durch Druck von außen.

Es waren nicht die schmerzhaften Sessions, nicht die Retreats, nicht das Zittern oder das Weinen, die mich weitergebracht haben. Heilend waren für mich Momente, in denen ich lernte, bei mir zu bleiben – selbst wenn äußere Erwartungen (z. B. von Coaches) mich zum »Loslassen« drängten. Ich bin mir mittlerweile immer mehr im Klaren darüber, dass für mein System ein «Ich-bleibe-bei-mir» eine heilsamere Haltung darstellt als ein «Ich-öffne-mich-jetzt-ganz». Ich lerne zurzeit außerdem, dass mein Weg langsamer ist. Und leiser.

Heilung braucht absichtslose Nähe und bedingungslose Akzeptanz durch die Begleitpersonen. In einem solchen Setting lernt eine traumatisierte Person, bei sich bleiben zu dürfen – auch in Gegenwart anderer. Ob Kundalini-Aktivierung, Breathwork oder andere spirituelle Praktiken: Entscheidend ist der sichere Raum.
Foto: Depositphotos.com

Meiner Erfahrung nach ist traumasensible Spiritualität nie laut. Sie ist nie fordernd. Sie verlangt nichts. Sie überfordert nicht. Und sie misst keinen Fortschritt daran, ob jemand schreit, zittert oder »einen Durchbruch« erlebt. Traumasensible Praktiken zeigen sich für mich eher daran, ob jemand bei sich bleiben darf, ohne sich zu verlieren. Und da ist es egal, ob es sich um eine Kundalini-Aktivierung handelt, um eine Breathwork-Session oder eine Tantra-Sitzung. Welche Eigenschaften sollte folglich eine Spiritualität aufweisen, um den Heilungsprozess bei Trauma zu fördern?

– sie schafft Raum und vermeidet Druck  

– sie verbindet Öffnung mit Sicherheit  

– sie lädt ein, ohne zu fordern  

– sie baut auf kleine, feine Schritte statt große Gesten  

– sie respektiert ein verletztes Nervensystem und fördert Vertrauen in den eigenen Prozess

Mein spiritueller Weg führte mich zu einer Ausbildung als Kundalini-Facilitatorin. Zudem nehme ich immer wieder an Kundalini-Sessions anderer Facilitatoren teil. Daher weiß ich: Im Zusammenspiel von Kundalini und Trauma zeigt sich, wie unterschiedlich Körper reagieren. Kundalini ist kein Allheilmittel und kein Heilsversprechen. Kundalini hilft stabilen Menschen und solchen, die neugierig Körperprozesse erforschen wollen. Sehr sensible Menschen und Traumatisierte brauchen hingegen Settings, die sich an ihnen orientieren – und nicht an einer Methode.

Transformation im eigenen Tempo: Das "Yes you can" beim Loslassen von Altlasten braucht Geduld & Sicherheit.
Von der Raupe zum Schmetterling – diese Metapher steht für Transformation. Doch traumasensible Begleitung verzichtet auf Druck beim Loslassen von Blockaden oder Traumata. Stattdessen braucht es Zeit und Geduld, damit der Körper neue, positive Erfahrungen im eigenen Tempo verinnerlichen kann.
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Heute sehe ich meinen Weg mit anderen Augen. Ich sehe die Sehnsucht dahinter, ich sehe den Idealismus, ich sehe aber auch die Verletzlichkeit. Und ich sehe die Gefahr, wenn spirituelle Räume sich selbst überschätzen.

Für mich bedeutet der Weg nach innen inzwischen nicht mehr Öffnung um jeden Preis, sondern Beziehung zu mir selbst – und zwar in kleinen Schritten. Ich sehe inzwischen auch, dass stille Prozesse oft tiefer wirken als laute. Mein Körper schützt mich – und das ist kein Block, sondern ein Geschenk.

Für mich ist Kundalini keine Abkürzung, sondern ein Werkzeug. Ebenso ist Trauma kein Hindernis, sondern ein Hinweis darauf, wie sensibel und intelligent ein Körper ist, der überlebt hat. 

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