Spiritualität im Alltag

Fünf Tipps: Achtsam spazieren gehen

Achtsamkeits-Coach Michael Maleschka gibt Barbara Nobis fünf Tipps zum achtsamen Spazierengehen
Das Foto zeigt Michael Maleschka ©privat

Im März 2021 führte Barbara Nobis ein Telefoninterview mit Achtsamkeits-Coach Michael Maleschka zum achtsamen Spazierengehen. Das Gespräch können Sie nicht nur lesen, sondern als YouTube-Beitrag hören. Klicken Sie dazu auf folgenden Link. Das Interview entspricht dem zweiten Teil der Mini-Serie »achtsam spazieren gehen« Das Gespräch mit Barbara Nobis beruht auf ihrem Versuch, achtsam spazieren zu gehen (Teil 1). Sie finden ihren Erfahrungsbericht ebenfalls in diesem Blog.

ACHTSAM SPAZIEREN GEHEN: Fünf Tipps von Michael Maleschka, Bewusstseinsraum Hagen (ab 0:00 Min.)

Michael Maleschka: Ich bin Michael Maleschka und arbeite als Institutsleiter des Bewusstseinsraums in Hagen. Wir bieten Kurse und Seminare rund um die Achtsamkeit an.

BARBARA NOBIS: Vielen Dank, lieber Michael für deine kurze Vorstellung.  Bevor wir uns den Tipps zum achtsamen Spazierengehen zuwenden, fände ich es spannend zu hören, wie du zur Achtsamkeit gekommen bist.

Michael Maleschka: Wie es so häufig in diesem Bereich ist, standen am Beginn eigene Lernprozesse. Ich hatte als Kind sehr viel zu tun mit Perfektionismus, was soweit ging, dass ich in der vierten Klasse bei einem Fehler anfing, zu kollabieren. Daraufhin wurde ich von verschiedenen Ärzten untersucht. Sie fanden jedoch nichts, weil ich ja gar nicht krank war. Ich hatte einfach in meinem Kopf den Gedanken, immer alles richtig machen zu müssen. Da mir keiner helfen konnte, habe ich angefangen, mir selbst zu helfen. Ich habe mich dann mit Mentaltraining beschäftigt. Dies habe ich später als Neurolinguistisches Programmieren ( NLP) kennengelernt. Außerdem habe ich geschaut, wie es sein kann, dass diese Gedanken so eine starke Wirkung auf mich haben und wie ich das ändern kann.

BARBARA NOBIS: Das heißt, du bist über das eigene Leid zur Achtsamkeit gekommen. Vielleicht wäre es an dieser Stelle hilfreich, zu erfahren, wie du Achtsamkeit definierst.

MICHAEL MALESCHKA DEFINIERT ACHTSAMKEIT MITTELS DES WOW-EFFEKTS (ab 1:28 Min.)

Michael Maleschka: Achtsamkeit ist für mich eine liebevolle Hinwendung zu allen Aspekten des Lebens – und dies aus einer Geisteshaltung heraus, die man als WOW beschreiben kann. Wach, offen, wohlwollend.

BARBARA NOBIS: WOW – Das ist leicht zu merken. Ich hoffe, ich war während meines Spaziergangs wach und offen. Ich hatte da einfach nur den Gedanken, in jedem Moment gegenwärtig sein zu wollen. Am Ende des Spaziergangs habe ich mich allerdings gefragt, ob ich achtsam genug war. Aber vielleicht gibt es bei der Achtsamkeit kein Richtig und kein Falsch?

Michael Maleschka: Ja, genau. Du hast schon gesagt, dass es kein Richtig und Falsch in der Achtsamkeit gibt. Dieses Richtig und Falsch lässt sich jedoch nicht ohne weiteres abstellen. Wir haben einen Verstand, der sehr dualistisch ist. Der Verstand bewertet die Dinge, unterteilt sie in richtig und falsch, ja und nein, gut und schlecht. Deshalb sollte man sich beim Vorsatz, achtsam zu sein, oder wie in deinem Fall achtsam spazieren zu gehen, nicht eine Zwangsjacke des Nichtbewertens anziehen. Es ist ratsam, bei einer Bewertung nicht zusammenzuzucken und zu sagen: »Oh mein Gott, jetzt war ich wieder in der Bewertung und war nicht achtsam!«

Im ersten Schritt solltest du die Achtsamkeit darauf legen, wann du bewertest und wie du bewertest. Deshalb ist Achtsamkeit kein Nicht-Bewerten, sondern eine wohlwollende Indifferenz. Es geht darum, dieses WOW-Element, diese wache, offene und wohlwollende Haltung übst. Das gilt auch dann, wenn du mal dich oder andere negativ bewertest oder einen schlechten Gedanken über dich und andere hast. Die WOW-Haltung ist auch dann hilfreich, wenn du feststellst, dass du eine bestimmte Erwartung an dich oder eine andere Person stellst.

BARBARA NOBIS: Das heißt: ich lasse diese Bewertung, wie sie ist: Welche weiteren Punkte gibt es zu beachten, wenn ich achtsam spazieren gehen möchten?

1. ACHTSAM SPAZIEREN GEHEN, UM SICH IN DER MEDITATIVEN HALTUNG ZU ÜBEN (ab 3:44 Min.)

Michael Maleschka: Ich finde, es gibt zwei Ausrichtungen, wenn man achtsam spazieren gehen möchte. Das eine ist eine meditative Haltung. Da nimmst du dir nichts vor. Da geht es darum, dich im Gewahrsein zu üben. Es geht darum, mit dir zu sein, mit deinen Gedanken und Gefühlen und den Körperempfindungen, die jetzt gerade da sind – so wie sie sind. Es geht darum, wohlwollend gegenüber all diesen Eindrücken zu sein und alles willkommen zu heißen, was da sein möchte. Wenn da Unruhe ist, ist da Unruhe, wenn da Ruhe ist, ist da Ruhe, wenn da Ärger ist, ist da Ärger und wenn dort Frieden ist, ist da Frieden. Das ist das klassische Akzeptieren in der Achtsamkeit.

BARBARA NOBIS: Das ist leichter gesagt als getan…

Michael Maleschka: Die zentrale Säule in der Achtsamkeit ist es, den Widerstand aus dem System zu nehmen. Es geht darum, nicht gegen die Gedanken, Gefühle und Zustände anzukämpfen, die gerade da sind, sondern sie einzuladen, da zu sein. Deswegen sage ich immer, dass Achtsamkeit nicht schwierig ist, aber ziemlich ungewohnt. Wir geraten häufig mit den Gewohnheiten unseres Verstandes in Konflikt. Der Verstand kennt kein Nicht-Bewerten und Alles-So-Sein-Lassen. Deshalb brauchen wir Geduld, um gut mit uns selbst umzugehen.

Das Foto zeigt einen sich teilenden Bachlauf. Menschen, die im Wald achtsam spazieren gehen, könnten darin eine Entscheidungshilfe erkennen.
In der Natur finden wir immer wieder Symbole, die uns dabei unterstützen, mithilfe unserer Körperintelligenz Entscheidungen zu treffen. Das kann ein Blatt sein oder aber auch der hier fotografierte Bachlauf. Foto: Barbara Nobis

2. ACHTSAM SPAZIEREN GEHEN, UM ZU EINER ENTSCHEIDUNG ZU GELANGEN (ab 5:04 Min.)

BARBARA NOBIS: Und wie steht es um den zweiten Aspekt beim achtsamen Spazierengehen?

Michael Maleschka: Der zweite Aspekt ist das Kontemplative. Dazu hätte ich mehrere Tipps. Kontemplativ bedeutet, dass ich ein Thema in den Spaziergang mitnehme. Vielleicht arbeitet in mir noch eine Auseinandersetzung oder ich habe eine Entscheidung zu treffen. Deswegen kann ich dieses Thema auch ganz offiziell in meinen Spaziergang mitnehmen. Dazu gibt es in der Natur verschiedene kleine Hilfsmittel, die ich dazu nutzen kann.

Stell dir vor, dass du vor einer Entscheidung stehst. Du überlegst du dir folglich, ob du dich für oder gegen etwas entscheiden solltest. Deshalb kannst du bei deinem Spaziergang Ausschau nach einem schönen Blatt halten, das auf dem Boden liegt. Nimm dieses Blatt und spüre dich in dieses Blatt hinein. Nutze die eine Seite des Blattes, um die Vorteile zu erspüren und wahrzunehmen, die dir hinsichtlich einer Entscheidung in den Sinn kommen. Danach drehst du das Blatt um und versuchst dich in die Nachteile deiner Entscheidung einzufühlen und dir diese Frage zu beantworten.

BARBARA NOBIS: Ich stelle mir das gerade bildlich vor. Ich bin im Wald, ich greife mir ein Blatt, berühre mit meinen Fingern seine Vorderseite und sage mir, dass hier die Vorteile zu finden sind. Danach wende ich das Blatt, um die Nachteile zu finden. Während ich dies jetzt formuliere, habe ich das Gefühl, als handele es sich nach wie vor um ein sehr verstandesorientiertes Vorgehen.

Die Natur unterstützt Entscheidungen, die mithilfe des Körperbewusstseins getroffen werden (ab 6:50 Min.)

Michael Maleschka: Ja, bei diesem Prozess ist der zweite Schritt interessant. Um dieses Dualistische aufzubrechen, hast du ja die Vorteile benannt. Dann stellst du die Frage nach innen, in deine Körpermitte. Bei so einer kontemplativen Haltung lässt man die Frage in die Körpermitte fallen. Das ist vergleichbar mit einem Kieselstein, der in einen See fällt. Dieses Vorgehen löst in dir etwas aus. Daraus ergeben sich in dir Körperempfindungen und Gefühle. Das heißt, du setzt nicht nur den Verstand ein, sondern nutzt zugleich dein Körperbewusstsein und deine Körperintelligenz.

Bei den Vorteilen, die du findest, kannst du dich fragen: Was ist das Schlechte im Guten? Vielleicht erkennst du als Vorteil, dass du es schon immer so gemacht hast. Du bemerkst, dass du in deiner Komfortzone bleiben kannst. Wenn du diese Frage in dich hineinfallen lässt, können in dir Impulse aufsteigen, die dir zeigen, dass der Vorteil eigentlich auch ein Nachteil ist. Umgekehrt kannst du bei den Nachteilen das Gute im Schlechten erforschen. Welche Wachstumschancen habe ich – selbst wenn es da die Möglichkeit gibt, zu scheitern?

So breche ich mittels der Achtsamkeit das dualistische Prinzip in ein dialektisches Prinzip auf.  Das entspricht diesem YIN-YANG. Wenn du das Yin-Yang-Zeichen vor Augen hast, findest du in der weißen Fläche den schwarzen Kreis und in der schwarzen Fläche den weißen Kreis. Durch das Wenden des Blattes siehst du, dass eine Entscheidung nicht nur Vorteile hat, sondern in sich auch Nachteile birgt. Ebenso enthält ein Nachteil auch wieder Vorteile. Das führt vielleicht zu einer gewissen Form von Verwirrung. Jedoch gibt es das schöne Zitat, dass aus der Knospe der Verwirrung die Blüte der Erkenntnis entsteht.

BARBARA NOBIS: Der Perspektivwechsel ermöglicht mir folglich einen anderen und tieferen Blick auf mein Problem.

3. ACHTSAM SPAZIEREN GEHEN, UM EINE ANDERE  PERSPEKTIVE AUF EIN PROBLEM ZU BEKOMMEN (ab 8:45 Min.)

Michael Maleschka: Ja, und noch eine andere Thematik: Dir fehlt momentan ein bisschen Halt im Leben. Du merkst vielleicht gerade, dass du deine Verwurzelung verloren hast. Du weißt aktuell nicht so genau, was gerade gut für dich ist. Dann ist es ratsam, sich während des Spaziergangs einen Baum auszusuchen, sich auf den Boden zu setzen und sich mit dem Rücken an den Baum zu lehnen. Dadurch fühlst du dich geerdet und gehalten.

Dieses Gefühl ist an sich immer da. Wenn du jedoch meinst, diese Erdung und das Gehalten-Werden verloren zu haben, kannst du es auf diese Weise wiedererlangen. Diese Methode empfiehlt sich immer dann, wenn dich Menschen enttäuscht haben oder du in dir nicht so Halt findest. Die Natur ist immer für dich da.

BARBARA NOBIS: Ein schöner Gedanke – und es ist fast schade, dass wir dieses Interview telefonisch führen und jetzt nicht in der Natur sind. Dann könnte ich deine Anregungen vor Ort ausprobieren.

Michael Maleschka: Ja klar, wir können mal schauen, wie wir das realisieren. Grundsätzlich kannst du meine heutigen Tipps in deine Selbsterfahrung mit einbinden. Du hast ja bereits einen Spaziergang gemacht, ohne dich vorab mit der Thematik besonders auseinanderzusetzen. Das ist wundervoll, weil bei der Achtsamkeit der Anfängergeist ein wichtiges Prinzip ist. Das beinhaltet, dass du ohne Konzept bist.

4. ACHTSAM SPAZIEREN GEHEN, UM DIE NATUR IN DEN HEILUNGSPROZESS MIT EINZUBEZIEHEN (ab 10:18 Min.)

Michael Maleschka: Ansonsten hätte ich noch ein oder zwei Tipps für dich, die noch ein bisschen weitergehen. Das ist eine Selbstcoaching-Erfahrung oder eine Heilerfahrung. Wenn du eine Verletzung mit dir herumträgst, kannst du zugunsten deines Heilungsprozesses die Natur mit einbeziehen. Schaue dich dann in der Natur um nach Elementen, die gewisse Verletzungen aufweisen. Das kann ein Baum sein, der in Schräglage geraten ist oder ein abgebrochener Ast.

Lege beispielsweise beim Baum deine Hand auf den Stamm und spüre in deine eigene Verletzung hinein. Welche Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen löst dies in dir aus? Außerdem siehst du, dass es um dich herum viele Verletzungen gibt. Es ist die Natur der Dinge, dass wir verletzt werden, dass wir aber auch verletzen. Wenn du einen abgebrochenen Ast eine Zeitlang mit dir herumträgst, kommst du dadurch in Kontakt mit deinem Körper. In dem Moment, wo du diesen Ast berührst oder trägst, ist es eine ganz andere Verbindung, als wenn du über diese Verletzung nachdenkst.

BARBARA NOBIS: Die Natur für die eigene Heilerfahrung zu nutzen, empfinde ich als eine gute Idee

5. ACHTSAM SPAZIEREN GEHEN, UM GEWOHNTE WEGE ZU VERLASSEN UND VERHALTENSROUTINEN ZU VERÄNDERN (ab 11:37 Min.)

Michael Maleschka: Noch eine andere Idee: Du gehst spazieren und bist auf deinem Weg. Es ist schön, wenn du dich dort auskennst. Aber wie ist es, wenn du mal einen Moment stehen bleibst, nach links und rechts schaust und nicht den üblichen Weg nimmst. Welche Gedanken und Körperempfindungen löst diese Handlung in dir aus? Wenn du anderen Wegen folgst, wirst du einerseits merken, dass es eine Herausforderung ist; andererseits ermöglicht dir das Verlassen bekannter Pfade neue Perspektiven.

Schau mal, dass du dich dennoch orientieren kannst und nicht der Rettungshubschrauber kommen muss. Aber grundsätzlich empfiehlt es sich, abseits der üblichen Wege die Körperempfindungen und Gefühle wahrzunehmen. Wenn du danach wieder auf deinem Weg bist, lasse dich in deine Körpermitte fallen und frage dich, wo du dich im Alltag jenseits der üblichen Wege aufhalten möchtest. Wo befindest du dich in Routinen und Gewohnheiten, die du ein Stückweit verlassen möchtest?

Das müssen keine großartigen Veränderungen sein. Dadurch hast du jedoch die Chance, in deinem Verhalten etwas Neues auszuprobieren. Da könnte es darum gehen, dass du glaubst, nicht ohne deinen morgendlichen Kaffee auskommen zu können, weil er dir scheinbar Energie gibt. Aber meine eigentliche Energiequelle ist ja eine ganz andere. Wenn ich jetzt morgens einfach ein warmes Glas Wasser trinke, oder einen Tee und das für ein paar Tage verändere – habe ich dann plötzlich keine Energie mehr oder ist es vielleicht ganz anders? Also für das Prinzip der ausgetretenen Pfade und der bekannten Pfade vermittelt uns die Natur ein tolles Bild. 

BARBARA NOBIS:  Ein schöner abschließender Satz, der auf jeden Fall mich dazu anregt, diese Tipps umzusetzen.

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